Brigitte sagt: Männer über 25 Jahre dürfen kein Skateboard fahren! Eine Analyse des aktuellsten Shitstorms
Heute hat mir ein sehr amüsanter Artikel der Qualitätszeitung BRIGITTE für gelangweilte Frauen unter 30 Jahren den Tag versüßt! In einem auf St. Pauli fundiert recherchierten Artikel beschreibt Redakteurin (oder Korrespondentin, da aus ihrem Kiez St. Paili berichtend?) Bianka Echtermeyer ihre Phobie gegen skatende Männer, die älter als 25 Jahre sind. Die Analyse erfolgt nach dem Original-Artikel, erst muss Zeit für Satire sein!
Völlig zu Recht kritisiert die Autorin den Jugendwahn unter alternden Männer, die sich skatender Weise durch das (noch?) hippe St. Pauli bewegen. Während sie fundiert argumentiert, dass sie IHREN Kiez wegen der Verrücktheit der Bewohner (Bionade trinken, Jute-Beutel tragen oder in frechen Röhrenjeans flanieren) liebt, stellt sie konservativ skatende Traditionalisten an den Pranger. Selbst nervende Touristen sind für Bianka im Gegensatz zur skatenden Zunft altersschwacher Männer Balsam für die Seele. Da ich, seit Pauli angefangen hat unverrückt zu werden, diesen Hamburger Stadtteil nicht mehr besucht habe, beginne ich mich Dank des kritischen Artikel zu fragen: Wie haben die marodierenden Horden Schlumpfmützen tragenden Skater wohl das Anlitz dieses einst verückt-pulsierenden Stadtteils verändert? Auch muss die Geruchsbelästigung extrem sein: Bettina, ähh Bianka, schreibt ja, dass diese Skater noch nach den Parties der vergangenen Nacht stinken sollen. Ich wundere mich jetzt: Wonach mag das einstmals mit Leben gefüllten Viertel jetzt wohl riechen, seit der skatende Tod durch die Straßen rollt? Nach Alpecin (Power Grau)? Nivea for Man?
Trotzdem freue ich mich, wenn ich nächstes Jahr 30 alt werde: Endlich erwachsen! Wie Bettina, verdammt, ich meine Bianka, mir mitteilt werde ich dann schnelle Autos fahren, anfangen Steuern zu zahlen und endlich Fußball spielen können. Yuhu, oder wie es wir Jugendliche sagen: YOLO! (ACHTUNG: Auf dem Titelbild des verlinkten Yolo-Artikels sieht man Menschen unter 25, die skaten!). Neben dem Mehrwert, den ich für mein restliches Lebensjahr mitnehme, möchte ich mich ausdrücklich bei der Autorin für dieses amüsante literarische Meisterwerk bedanken. Danke BRIGITTE, Danke Bettina, Danke Bianka. Danke für so viel Müll!
Aber lest selbst:
So, Ironie aus
Man mag ja über den (Dada-)Artikel denken was man will, aber wir die BRIGITTE Redaktion auf die Reaktionen im Netz antwortet ist dem Web 2.0 nicht würdig. Zur Story: Der Originale Artikel (s. oben) erschien wohl um die Mittagszeit, macht im Web aber schnell die Runde. Hier die Chronologie:
- Der Artikel erscheint
- Erste Kommentar trudeln wohl auf dem Blog ein
- Der Artikel macht in Facebook die Runde
- Brigitte löscht den Artikel auf der Website kommentarlos und sperrt die Kommentarfunktion, stellt aber eine erste (komplett an der Kritik vorbeigehende) Stellungnahme ein
- Auf der Facebook-Seite von Brigitte beginnt eine vor beißender Ironie trotzender Shitstorm. (Tipp: Schnell mal nachgucken, so lange noch aktuell. Ist echt witzig)
- Eine Stellungnahme wird STATT (nicht zusätzlich) des Artikel unter der URL der Originalartikels eingestellt
- Auch in Facebook schein Brigitte zu zensieren (Bsp.)
- Die Stellungnahme wird im Ticker-Stil mehrmals aktualisiert, trifft aber immer noch nicht den Kern der Kritik (29.11., 20:33Uhr)
Hier zeigt sich mal wieder die Macht des Web 2.0: Während BRIGITTE davon ausgeht, den Shitstorm durch Löschung und Zensur einfach verstumme lassen zu können, werden die User gerade erst durch diese Tatsache motiviert, diesen Artikel weiter zu diskutieren und zu verbreiten. Screenshots sind natürlich gemacht, die unfassbare Inhaltslosigkeit des Artikels tut sein übriges. Darüber hinaus ist man aber scheinbar nicht in der Lage, die oft durch Ironie geäußerte Kritik der User überhaupt zu erkennen. Und noch viel schlimmer: Man meint User an der Nase herumführen zu können. Wie der in Punkt 7 verlinkte und von der Brigitte Facebook Seite gelöschte Beitrag mit über 60 “Likes” beweist werden nicht nur die (vermutlich wenigen) beleidigenden Kommentare gelöscht. Viel mehr versucht man, die öffentliche Meinung manipulativ zu steuern und verliert so erst recht die Kontrolle! Im übrigen wird der Artikel mittlerweile auch in englischsprachigen (Web)medien der dortigen Skaterszene diskutiert.
Gut, wie hätte man reagieren können?
Da der Artikel niemanden “verletzt, beleidigt oder diskriminiert” (laut Entschuldigung in der Stellungnahme, Verlinkung s. unten) liegt hier kein wirklich gravierendes Problem vor. Genau das beweisen auch die Kommentare (und ich ich meine wirklich alle Kommentare), die auf Facebook und der Website nur so vor beißender Ironie strotzen. Gut, die Zeitung hat eindeutig ein Imageproblem. Anderseits gehören die Kommentierenden wohl auch nicht zur Zielgruppe des Blattes. Aus meiner Sicht wäre es die richtige Option gewesen, dem ganzen mit Humor zu begegnen. Ein flotter offizieller Satz, der die Inhaltslosigkeit thematisiert und Besserung bzw. mehr Sorgfalt gelobt. Anschließend auf möglichst viele der eingehenden Kommentare mit einer Pointe reagieren. Bei geschickter Wortwahl wäre es meines Erachtens sogar möglich hier Sympathie zu erzeugen. Außerdem sollte die Stellungnahme durch einen Satz ergänzt werden, der es legitimiert, Beiträge mit Kraftausdrücken (BTW: Skateboard ist not a crime!) zu löschen, um das Niveau der ironischen Diskussion zu erhalten. Aber auch hier sollte nicht jeder Begriff unter dieses “Dogma” (so fasst Brigitte es auf) fallen. Jeder Kommentar muss im Kontext und einzeln bewertet werden, anschließend kann bei erfüllen bergründeter Kriterien gelöscht werden.
Wie aber reagiert BRIGITTE? Leider wie aus dem Lehrbuch: “Wir möchten uns an dieser Stelle offiziell bei Ihnen entschuldigen. Es war nicht unsere Absicht, Gefühle zu verletzen, jemanden zu beleidigen oder zu diskriminieren. Wir bitten darum, auf diffamierende, beleidigende oder Gewalt androhende Kommentare zu verzichten.” Insgesamt scheint die Krisenkommunikation meiner Meinung nach den Shitstorm nicht nur erst ausgelöst zu haben; in der Entwicklung des gegenseitigen Austauschs hat das Kommunikationsmanagement diesen sogar noch verstärkt. Die mit der Außendarstellung Beauftragten scheinen nicht über genügen Erfahrung (oder Qualifikation? …eigentlich braucht man nur Lesen zu können) zu verfügen, um überhaupt die Stoßrichtung der User-Kritik in den Kommentaren erkennen zu können.
Okay, was Kommunikation angeht: Der Artikel ist schon zu lang, ich mach jetzt Schluss. Ich hoffe, dass der geneigte Leser dieses literarische Meisterwerk von BRIGITTE genau so amüsiert wie mich.
Wie seht ihr das eigentlich? Welche weiteren Reaktion wären möglich gewesen? Ist mein Vorschlag überhaupt plausibel?
PS: Da Brigitte ja, wie wir jetzt alles wissen, gerne zensiert, hänge ich hier einen Screenshot der krisenerzeugenden Kommunikation/Stellungnahmen an. Oder (so lange der Link noch geht) hier entlang.
UPDATE [30.11.2012]: Der im gleichen Verlag (was immerhin kommuniziert wird) erscheinende Stern ergreift jetzt Partei für BRIGITTE. Dabei soll augenscheinlich versucht werden, vom Kern der Diskussion abzulenken. Nicht inhaltsloser Journalismus wird thematisiert – statt dessen wird der Versuch unternommen, den Shitstorm zu personalisieren und die betroffene Redakteurin als Opfer zu inszenieren. So soll aus “Angst” die Nacht nicht in ihrem Haus verbracht haben. Okay – wurden hier wirklich private Daten veröffentlicht, ist das nicht gut zu heißen. Allerdings frage ich mich: Sind diese Daten nicht sowieso zu finden? Viel wichtiger ist allerdings, dass ich nach dem erneuten durchlesen von Kommentaren aus mit Sarkasmus gepaarter Ironie nirgends! irgendwelche ernst zu nehmenden Kommentare gegen die Person der Autorin gefunden habe.
Bei der Fortsetzung der gescheiterten Krisendiskussion wird in einem weiteren Abschnitt sogar versucht, an den Stolz der Web. 2.0 Community zu appellieren, verbunden mit einer Schuldzuweisung: “Das kann niemand wollen, die Aggro-Skater am wenigsten. Leider aber liefern sie mit ihren Tiraden genau die Art von Munition, die Friedrich, Uhl und Konsorten brauchen, um die Freiheit im Netz weiter sturmreif schießen zu können. Auch dafür schon einmal: vielen Dank, liebe Shitstormer.” (Zitat Ende) Warum hier von Aggro-Skatern die Rede ist bleibt mir allerdings verschlossen. Wer sich hier warum und wie äußert wird anscheinend immer noch verkannt.
An anderer Stelle werden absolut unpassende Vergleiche gezogen. Wieder ist es offensichtlich das Ziel, von der Problematik des unqualifizierten Journalismus (Okay, Euphemie im Bezug auf BRIGITTE 😉 abzulenken: Muslime, Linke, Vegetarier, Asylbewerber, Hausbesitzer, Porschefahrer, Juden, Rumänen oder was auch immer an den Pranger. Ähhh ja!
Ich bin wirklich gespannt, wie sich dieses Kommunikationsdiaster weiterentwickelt. Humorvoll fand ich allerdings den Tipp, den nächsten Shitstorm doch bitte auf der Facebook Fanpage des Autors zu veranstalten. Immerhin schafft man es so die User auf einen anderen Kanal zu holen und auch etwas vom Edge-Rank Kuchen abzubekommen :-D. Und natürlich bleiben auch ein paar Fans hängen… Im letzten Jahr bis heute waren es ja nur 180.
UPDATE [30.11.2012, 21.27 Uhr] Stern zensiert jetzt auch. Exakt den oben stehenden Kommentar hatte ich auf der Facebook-Seite von Stern gepostet, er wurde anscheinend jedoch als Spam markiert. Damit ist er zwar noch für meinen persönlichen Account und die meiner direkten Freunde sichtbar, aber nicht mehr für die Öffentlichkeit. Ein in der Allgemeinheit wenig bekannt Funktion von Facebook, die Community Manager schätzen, hier aber unangebracht ist! Stellungnahme, liebes Stern-Team? Ich bin über das ganze zufällig gestolpert und habe es mit mehreren Accounts überprüft. Sollte der Kommentar wieder sichtbar sein, so wurde die Spam-Markierung wieder rückgängig gemacht. Schade eigentlich… Oder geh ich mit der Sache doch zu hart ins Gericht?
UPDATE [01.12.2012] Mittlerweile hat der Stern (wirklich gut) reagiert. Deshalb hänge ich hier mal einen Screenshot des Kommentars von Stern an. Was mir noch wichtig ist: Meine Kritik hat sich nie gegen diejenigen gerichtet, die Social Media betreuen. Habe ich vielleicht nicht deutlich genug heraus gestellt, mea culpa. Bei aller Kritik kann man nie wissen, unter welchen Umständen die BetreuerInnen arbeiten. Haben sie die nötige Unterstützung, ist Social Media eine Hauptaufgabe, spielen politische Entscheidungen der Vorgesetzten eine Rolle? All das und noch viele weitere Faktoren kann man als Außenstehender nicht beurteilen. Man könnte hochtrabend sagen, dass ich das Ganze aus einer “akademischen Kommunikationstheoretischen Perspektive” betrachte 😉
pic by chatwill
One Response to “Brigitte sagt: Männer über 25 Jahre dürfen kein Skateboard fahren! Eine Analyse des aktuellsten Shitstorms”
[…] Fluch als Segen offline genommen hat (das war übrigens nicht das erste Mal, siehe hier: Männer über 25 dürfen kein Skateboard fahren) hat ihn Christine von Mama arbeitet jetzt als Gastbeitrag in ihren Blog aufgenommen. Was ich gut […]